Das Ringen um die konkrete Gestalt
Prof. Dr. Georg W. Bertram,
August 2007
Das alte Rätsel der Bilder ist das Entstehen der Gestalt. Schon immer hat die Malerei sich in besonderer Weise diesem Rätsel gewidmet. Sie setzt sich mit der Schwierigkeit auseinander, durch den bloßen Auftrag von Farbe auf eine Fläche eine Gestalt zu zeigen. Wenn auf der Fläche nur der bloße Farbauftrag, das bloße Material zu sehen ist, dann scheitert das Bild. Wenn hingegen der Farbauftrag eine Gestalt zu zeigen beginnt, dann gelingt es. Dadurch, dass Bilder etwas zeigen, gewinnen sie Bedeutung für uns – nicht dadurch, dass sie etwas darstellen. Das wird besonders dort offensichtlich, wo die Bilder abstrakt werden. Und es wird noch offensichtlicher, wo Bilder in ihrer Abstraktion konkret werden.
Genau eine solche Bewegung findet in den Bildern von Hilli Hassemer statt: Diese Bilder ringen aus der Abstraktion heraus um die konkrete Gestalt. Sie führen eine Auseinandersetzung, die von den großen Themen der Entstehung der Welt handelt: von Chaos und Ordnung, von Abstoßung und Anziehung, von Vereinzelung und Zusammenhang. Wer diese Auseinandersetzung führt, will eine konkrete Gestalt in ihrer Entstehung zeigen und fragt sich, was für dieses Zeigen erfordert ist. Am Anfang sind, so scheint es, die einfachen Gestalten: der Kreis und die Linie. Diese Gestalten werden in den Arbeiten von Hilli Hassemer durch stete Wiederholung erprobt.
Die Wiederholung aber ist, wie unter anderem Hegel und Derrida uns gelehrt haben, die Veränderung. Jede Wiederholung setzt Differenz voraus. Sie ist nur dann gegeben, wenn es zu immer neuen Gestalten kommt. So entsteht in der Wiederholung die eine Gestalt dadurch, dass sie sich von den anderen abstößt, dass sie sich von den anderen unterscheidet. Das Entstehen von Gestalt ist hier abstrakt und so sind es auch die einfachen Gestalten. Kreise und Linien werden nicht konkret, wenn sie in Serien gezeigt werden. Wiederholungen präsentieren – nur ‑ eine Struktur von Gestalten, die in der Wiederholung Identität gewinnen – eine Struktur von Gestalten, die sich wechselseitig Identität geben.
Es gilt – das bewegt die Arbeiten von Hilli Hassemer – Gestalt über die Wiederholung hinaus konkreter zu zeigen. Wie aber kann das gelingen? Gestalten können sich vor einem Hintergrund abzeichnen. So komponieren die Bilder von Hilli Hassemer Farbflächen, die sich überlagern. In einer solchen Überlagerung entsteht Gestalt dadurch, dass Konturen hervortreten, dass sich Hintergründe und Zwischenräume ausbilden. Die Gestalten, die dabei gezeigt werden, gewinnen eigenartige Konturen. Sie sind nicht mehr einfache Gestalten, sondern polymorph, heteromorph. Damit stehen wir vor einer neuen Frage: Wovor zeichnet eine eigenartige Gestalt sich ab? Was ist der Hintergrund, was ist der Vordergrund? Welche Gestalt gewinnt vor welcher Kontur?
Wo eine Gestalt entsteht, gibt es keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Wenn auf Holz Lack verrinnt, dann beginnt die Maserung des Holzes sich genauso abzuzeichnen wie die Lackfläche. Zudem beginnt der Lack im Verrinnen seinerseits auch eine Maserung anzunehmen. Wo also entsteht eine Gestalt? ‑ Im Farbauftrag oder in einer Kontur? – In einer Textur der Leinwand oder des Holzes? Gestalt entsteht in keinem von beiden. Sie entsteht in einer Unterbrechung, in einem Zwischenraum. Die Gestalt fängt zum Beispiel dort an, wo eine Linie sich nicht fortsetzt.
Es hat den Anschein, als würden die Arbeiten von Hilli Hassemer im Laufe der Jahre immer abstrakter. Doch das Gegenteil ist der Fall: Sie werden immer konkreter. Sie zeigen mit zunehmender Genauigkeit Gestalten im Entstehen. Sie lösen die Gestalt aus den Zusammenhängen, in denen sie nur abstrakt bestimmt ist, und zeigen sie konkret: offen und unabgeschlossen. Man kann diese Arbeiten so sehen, dass sie das Gezeigte immer weiter vergrößern. Die Vergrößerung aber ist in Wahrheit eine Konkretion. Wie kann eine Gestalt, in ihrer Entstehung, noch konkreter gezeigt werden? Das ist die Frage der Bildlichkeit, wie die Bilder von Hilli Hassemer sie sich stellen.
Grappling for concrete shapelt
Prof. Dr. Georg W. Bertram, August 2007
The age-old riddle behind pictures is how shapes emerge. Painting has always devoted itself in a particular manner to this riddle. Painting deals with the difficulty of showing a shape on a flat surface using only colour. If the only thing you see on the surface is a coat of paint, the raw material, then the painting is a failure. However, when the colour starts to show a shape, it achieves its goal. By showing something, paintings mean something to us, not by representing something. This is especially apparent when painting becomes abstract. And it is even more apparent when painting becomes concrete in its abstraction.
This is exactly the type of movement that takes place in Hilli Hassemer‘s pictures: on the basis of abstraction they are grappling for concrete shape. They struggle, thereby, with the great questions of how the world was formed: with chaos and order, rejection and attraction, separation and connection. Whoever conducts this struggle is eager to show a concrete shape emerging and asks what is needed to show it. It seems that in the beginning the shapes are simple: the circle and the line. These shapes are tested in Hilli Hassemer‘s works through continuous repetition.
As Hegel and Derrida inter alia have taught us, though, repetition means change. All repetition presumes difference. Repetition only occurs if it leads to new shapes. Thus through repetition a shape is formed when it repels others, when it differentiates itself from them. The emergence of shapes is abstract here, as are the simple shapes. Circles and lines do not become concrete if they are shown in series. Repetitions only present a structure of shapes, which gain identity when repeated – a structure of shapes that give each other identity.
It is essential – and this is what moves Hilli Hassemer‘s work – to show shapes in a more concrete manner beyond repetition. How can this be done, though? Shapes can stand out from a background. Thus, Hilli Hassemer‘s pictures put together coloured surfaces that are superimposed. This act of superimposing allows shapes to appear in a way so that contours come to the fore and backgrounds and spaces take shape. The shapes shown in this process attain their own peculiar contours. They are no longer simple shapes, rather polymorphic, heteromorphic. This poses a new question: why does a peculiar shape emerge? What is the background, what is the foreground? Which shape wins out over which contour?
Wherever a shape emerges there is no clear answer to this question. If paint trickles onto wood, then the wood grain starts to come to the fore, as does the painted surface. Moreover, when the paint runs, it also starts to adopt texture. So where is the shape formed? In the application of colour or in a contour? – In the texture of the canvas or the wood? The shape emerges in neither. It emerges in discontinuity, in a space. It begins, for example, where a line ceases to carry on.
It seems that Hilli Hassemer‘s work has got ever more abstract over the course of time. The opposite is the case, though: her work gets ever more concrete. It shows the emergence of shapes with ever increasing accuracy. It detaches the shape from the connections it is only defined in abstractly, and shows it in a concrete fashion: open and incomplete. We can perceive her work as always further amplifying what is shown. The act of amplifying, though, is in truth an act of making it concrete. How can a shape be shown any more concretely in its emergence? That is the question of pictures, the question that Hilli Hassemer‘s pictures confront.